Aufsatz: "Paul Kälberer - Ein Künstler und sein Dorf im Tal der Glatt"



Quelle: Schwäbische Heimat 1998, Heft 4, S. 419-422
Autor: Reinhold Kälberer




Paul Kälberer 1928, Selbstporträt, von ihm bezeichnet als "Selbst mit Hut". Eine Bleistift- und Kreidezeichnung.

Am 15. März 1997 wurde die Gedächtnisausstellung "Paul Kälberer - ein Künstler und sein Dorf" im Wasserschloß Glatt unweit von Sulz am Neckar eröffnet. Sie war einer Retrospektive der künstlerischen Symbiose des Malers, Zeichners und Grafikers mit seiner 'Wahlheimat gewidmet. Einer seiner Söhne, Reinhold Kälberer, führte in die Ausstellung ein.

Gar vieles bewegte den fast 30jährigen Paul Kälberer in jenem Herbst 1926, als er das Haus in der Sommerhalde in Glatt erwarb. Er war zunächst ein Heilung-Suchender. Der Erste Weltkrieg hatte ihm den Lieblingsbruder und zahlreiche Freunde geraubt. Dafür brachte er neben einer schweren Verwundung bei Verdun ein Asthmaleiden aus der Kriegsgefangenschaft mit. Dabei wollten die seelischen Wunden, die der Krieg geschlagen hatte, noch weniger vernarben als die körperlichen. Von Kaiser und Kirche tief enttäuscht, war der Kriegsfreiwillige zum Pazifisten und Freigläubigen geworden. Pazifist ist er geblieben, zur Kirche hat er später wieder zurückgefunden.

Der Künstler am Scheideweg - Herb 1926

In dieser Zeit machte sich ein immer unbändiger werdender Freiheitsdrang bemerkbar. Der Entschluß, der Versuchung einer bürgerlichen Existenz als Zeichenlehrer zu widerstehen, war bereits gefallen. Auch das pietistische Elternhaus in Stuttgart, ja sogar die Akademie, waren ihm zu eng geworden. Sei glücklich in deinem Pferch! Mit diesem Stoßseufzer entließ ihn der besorgte Vater ins Hohenzollerische, sprich Preußische, und obendrein, wie er sagte, stockkatholische Ausland, nach Glatt.

Wenn für Paul Kälberer etwas feststand, so war es die künstlerische Berufung. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich P. K., wie er früh zu signieren begann, als Landenbergers Meisterschüler bereits einen Namen gemalt. Auszeichnungen und erste Porträtaufträge, ein sich erweiternder Kreis von Abonnenten für die monatlich erscheinenden Radierungen bestärkten ihn.

Dennoch packten ihn, der sich an den alten Meistern messen will, gelegentlich Zweifel am bisher Geleisteten. Am 16. Oktober 1926 liest sich dies so; Es kommt besonders hinzu, daß ich gegenwärtig meine Arbeiten nicht ansehen kann, ich möchte sie anzünden und in der Stille Neues beginnen. Der Weg in die Stille führte nach Glatt.

Dennoch packten ihn, der sich an den alten Meistern messen will, gelegentlich Zweifel am bisher Geleisteten. Am 16. Oktober 1926 liest sich dies so; Es kommt besonders hinzu, daß ich gegenwärtig meine Arbeiten nicht ansehen kann, ich möchte sie anzünden und in der Stille Neues beginnen. Der Weg in die Stille führte nach Glatt.

Die Stille ist gleichzusetzen mit Natur. Am Tag zuvor heißt es in einem Brief: Es ist nötig, daß ich wieder einmal die Natur ansehe, auch wenn kein Kunstwerk dabei herauskommen sollte. Entschlüsselt bedeutet dies, daß er von der Begegnung mit der Natur eben doch eine künstlerische Anregung erwartete.

Die Wahl fiel wohl deshalb auf Glatt, weil er hier ein im wesentlichen "naturbelassenes" Dorf antraf. Da wog die herrliche Nußbaumallee vor dem Haus schwerer als der lästige Umstand, daß das Wasser 50 Meter weit hergeschleppt werden mußte. Das, was später auf dem Grundstück im Schweiße des Angesichts entstehen sollte, vom Hühnerhof bis zur Bienenzucht, trägt unübersehbar rousseausche Züge. Es ist kein Zufall, daß sich der Künstler eine enzyklopädisch anmutende Zahl von kunsthandwerklichen Fertigkeiten aneignet. Es ist auch kein Zufall, daß drei seiner Söhne ein Handwerk erlernen, bevor sie ein Studium aufnehmen.


Bachlandschaften, entstanden 1931. Diese Radierung zeigt Glatt mit der oberen Brücke.

Trotz dieser Wendung zur Natur: Ein Eremitendasein war nie geplant. Paul Kälberer war nicht das, was man einen "Aussteiger" nennt. Über die gewiß lange Nabelschnur der Reichsbahn wußte er sich mit der Landeshauptstadt und seinem großen Freundes- und Künstlerkreis verbunden. Zahlreiche Reisen, besonders nach Italien, eine umfassende Kunstbibliothek, die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen zeugen von Weltoffenheit. Glatt blieb, auch während der Jahre der inneren Emigration im Dritten Reich, ein Ort der Begegnung und eine Insel der Redefreiheit.

Bleibt noch nachzutragen, daß eine junge Kunststudentin in Berlin dem Ruf "Zurück zur Natur!" bedingungslos zu folgen und dafür ihre eigene künstlerische Laufbahn zu opfern bereit war: Gesa Rautenberg. Wie bei der Begegnung mit Glatt, muß es sich bei der Begegnung mit Gesa Rautenberg um Liebe auf den ersten Blick gehandelt haben, denn sehr früh fällt die Entscheidung, den weiteren Lebensweg gemeinsam zu gehen.

Der Künstler im Dorf

Als das junge Paar in Glatt einzog, gehörten die beiden zu den wenigen sogenannten Reingeschmeckten im "Flecken". Das Dorf war eine Welt im kleinen, die in sich geschlossen dem Rhythmus der Natur folgte. Im Frühsommer erklang das abendliche Dengeln der Sensen, im Spätsommer dröhnte die Dreschmaschine weithin. Während der Apfelernte hing der Mostgeruch in der Luft, und bald kündigten die rauchenden Feuer von der Kartoffelernte.

Der Winter legte seine stille Schneedecke über Dorf und Tal. Es war die Stille, die für leise Töne empfänglich macht.

Wie der Maler den Ablauf der Jahreszeiten miterlebte, zeigt so mancher Bildtitel: "Glatt im Winter" oder "Im Tauschnee", "Vorfrühling", "Märzsonne". So wird das Dorf in allen Zeiten durchkonjugiert. Auffällig ist die Zahl der Winterlandschaften. Wenn die Natur die Struktur der Bäume freilegt und die Farbpalette aufs äußerste reduziert ist, dann genügt ein minimaler Farbeinsatz, um optimale Wirkung zu erzielen. Die Komposition gewinnt an Klarheit der Konturen.

So wie die Jahreszeiten, so ziehen auch die Lebensalter der Menschen in Kälberers Arbeiten an uns vorüber. Auch hier ist bemerkenswert, wie oft der Winter des Lebens dargestellt wird. In diesen Gesichtern vermochte der Künstler zu lesen wie im Buch des Lebens, in dem alles verzeichnet ist; jede Falte hat ihre Geschichte. Ob Abbild oder Maske der Seele - er versuchte hinter dem Phänomen die Wahrheit zu ergründen. Die immer wieder dargestellte "Dorfahne" pflegte von ihrem langen Leben zu sagen, daß es eigentlich nicht länger gedauert habe als ein bedächtiger Gang von der oberen Brücke bis zu ihrem Häuschen im Gießen hinter dem Schafhaus.

Der Künstler schätzte auch Originale wie den "alten Michel", der auf der Radierung "Bachlandschaft" dargestellt ist. Von ihm wußte er folgende Begebenheit zu berichten: Michel, so sprach ihn eines Tages der Pfarrer an, ich hab' gehört, Ihr wandelt auf schlechten Wegen! Die Antwort kam prompt und unwiderleglich: Gmoind soll's mache lau! Doch hat der Künstler die Dorfbewohner nicht idealisiert gesehen. Die vielsagenden Titel "Bauerngelage" und "Liebeshain" stellen die deftigen Seiten der dörflichen Sitten dar. Diese Blätter wurden zu Lebzeiten des Künstlers nie der Öffentlichkeit preisgegeben.


Die Gießenahne mit Holzscheiten. Öl auf Leinwand, gemalt zwischen 1946 und 1948.

Daß es keine Selbstverständlichkeit ist, in einer heilen Welt zu leben, zeigte sich schon vor dem Einzug, als der Gemeinderat beschloß, die wohl hundertjährige Nußbaumallee vor dem Haus fällen zu lassen und für 700 Reichsmark zu verkaufen. Da wallt dem Schwaben Paul Kälberer doch sein Blut. Mit Nachbarn zieht er aufs Rathaus, um zu protestieren. Er bietet sogar an, die Bäume später aufzukaufen. Vergeblich. Dieses Schlüsselerlebnis wird nicht vergessen. Viele Jahre später wird Paul Kälberer die markanten Bäume als Beauftragter für Natur- und Denkmalschutz als erhaltenswert einstufen. Von den mächtigen Nußbäumen, die einst so viele Bauernhäuser überwölbten, war jedoch keiner mehr übrig.

Für den Künstler bildeten Baum, Haus und Landschaft eine unzertrennliche Einheit, die es zu erhalten galt. Schon von der ersten Stunde an greift er somit erhaltend und gestaltend ins Dorfbild ein. Er entwirft ein Kriegerdenkmal, auch einige Häuser entstehen nach seinen Entwürfen, immer unter dem Aspekt der Eingliederung ins Dorfbild. Er kämpft um die Erhaltung des Schloßgartens, er bemüht sich, die Leute davon abzuhalten, die Gartenzäune weiß zu streichen, weil das naturbelassene Tannenholz im Laufe der Jahre einen unnachahmlichen silbrigen Glanz erhält. Er führt einen Feldzug gegen die Gartenzwerge, die unter dem Vorwand des Wirtschaftswunders in die Vorgärten eingedrungen sind. Das nicht Natürliche und das nicht Bodenständige war in seinen Augen Kitsch.

Die bedeutendste Leistung im dörflichen Bereich bildet zweifellos die Restaurierung der Schloßkapelle, deren damalige Degradierung zum Holzschuppen dem Künstler in der Seele weh tat. Nachträglich erscheint die deutsch-französische Zusammenarbeit mit dem kriegsgefangenen Stukkateur Roger Cana als die damals einzig mögliche Form des Widerstands gegen Haß und Zerstörungswut, ein Protest, der so fein gesponnen war, daß auch die Machthaber der Zeit, denen solche Ironie fremd war, hieran nichts auszusetzen vermochten.

Am 19. April 1945 standen die französischen Panzer schußbereit in der Nähe des Friedhofs und warteten vergeblich auf die weiße Fahne. Es ging um Sein oder Nichtsein des Dorfes. Ein beherzter Mann ging den Truppen entgegen und übergab die Ortschaft: Paul Kälberer. Von der Besatzungsmacht zum kommissarischen Bürgermeister berufen, ließ der Künstler schleunigst Wahlen abhalten. Glatt dürfte zu den ersten Gemeinden mit frei gewähltem Bürgermeister im Nachkriegsdeutschland zählen.

Für Paul Kälberer, dem politischer Ehrgeiz fernlag, galt es seiner künstlerischen Berufung gerecht zu werden. Mit dem Umsturz des nationalsozialistischen Regimes beginnt für ihn der Übergang zur öffentlichen Mitwirkung beim Wiederaufbau des kulturellen Lebens der Region.

Kälberers Kunstverständnis


Lithographie von 1946: Straße im Schnee. Abgebildet ist die Allerheiligenstraße in Glatt.

Paul Kälberer geht es nicht um bloße Dokumentation oder um die Darstellung einer dörflichen Idylle, sondern in jedem Werk setzt er sich von neuem mit dem Gesehenen, mit der Wirklichkeit auseinander. Dabei hat ihn die Nähe zum Sujet nie abgeschreckt. Einen Abklatsch der Natur hat er jedoch stets vehement abgelehnt. Schon sehr früh tauchen in Kälberers Arbeiten die Glatter Motive als Archetypen auf. Das Wasserschloß wird zum Schloß schlechthin. Der Glatter Haustyp mit seinem steilen, unten sanft ausschwingenden Dach wird zum Haus überhaupt. Die Bäume recken Stamm und Äste - bei aller Ähnlichkeit mit der Natur -eben nach dem Willen des Künstlers zum Himmel. Hoch oben, aus der schöpferischen Perspektive, durfte Paul Kälberer schalten und walten, wie es ihm gut dünkte. Das Dorf war sein. Er vermochte Zäune, Bäume, Häuser, ja Berge zu versetzen. Der Wille zum gestalterischen Eingriff ist allgegenwärtig.

Zum Willensakt der Komposition tritt eine Empfindsamkeit, die impressionistische Anklänge nicht verleugnen kann. Ein Kunstwerk ist ein durch die Brille eines Temperaments gesehenes Stück Schöpfung, schreibt Emile Zola, dessen Jugendfreund kein geringerer als Paul Cezanne war, durch dessen Schule alle Maler der Generation Paul Kälberers gegangen sind.

Kurz vor seinem Einzug in Glatt hatte Paul Kälberer in einem Brief an seine Verlobte sein Verständnis von äußerer und innerer Erfahrung folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Ich habe nicht den 'Ehrgeiz, besser malen zu können als andere, sondern ich fühle seit den Tagen meiner frühen Kindheit jene schöpferische Unruhe wirksam, die nach einer fernen Harmonie des ganzen Daseins ruft. Das ist wirklich eine ferne Harmonie, welche sehr viel Arbeit und fortwährendes Vergleichen der Klänge von innen mit denen von außen verlangt! So gesehen ist Paul Kälberers Kunst immer wieder ein Akt der Schöpfung und eine dem Maler eigene Form der Erkenntnis.