Aufsatz: "Eine Backküche und ihre Perspektiven. Versuch einer Interpretation."
Autor: Reinhold Kälberer 2009
Unter den großformatigen Arbeiten Paul Kälberers hat das sog. Backküchenbild (WV Nr. 35490, Format 135 cm x 200 cm)
in mehrfacher Hinsicht das Schicksal eines Außenseiters erfahren. Es entstand 1937 und sollte im selben Jahr
gewissermaßen "ofenwarm" auf der "Ersten Großen Deutschen Kunstausstellung" in München gezeigt werden. Es wurde
zur großen Enttäuschung des Künstlers, der wochenlang an diesem Werk gearbeitet hatte und dieses sicher als eines
seiner Hauptwerke betrachtete, ausjuriert. In der Folge wurde es so gut wie nicht ausgestellt und entsprechend von
der Kritik kaum beachtet und schon gar nicht besprochen. Ganz zu Unrecht, wie mir scheint, und wie ich im Folgenden
aufzeigen möchte.
Zugegeben: Das Gemälde ist nicht einfach einzuordnen. Sollte es ein Genrebild sein wie bei einem Bauern-Brueghel?
Ich denke da an die berühmte Bauernhochzeit, von der sich übrigens ein gerahmter Druck im Nachlass des Künstlers
befindet. Eines der Motive, nämlich das mit Schüsseln beladene Brett, finden wir zwar bei den aufgereihten
Brotleiben und Brezeln wieder, aber es bedurfte eigentlich nicht des Rückgriffs auf den holländischen Maler
des 16. Jahrhunderts, denn die Realität der Glatter Backstube bot dieses Motiv von selbst an wie die vier
erhaltenen Vorzeichnungen belegen. Vielleicht war es umgekehrt so, dass diese "brueghelsche" Realität den
Maler zur Auseinandersetzung mit diesem Thema anregte.
Ist das Werk als Allegorie aufzufassen etwa im Sinne eines Loblieds auf die Arbeit oder mit der Absicht, die
Thematik des "Gib uns unser täglich Brot" in Szene zu setzen? Für die Interpretation als Allegorie spricht
P.K.s generelles Kunstverständnis, geht es ihm doch darum, auf das Zeitlose, Allgemeingültige abzuheben, das
Zufällige zurückzudrängen, das Wesentliche herauszustellen. Vielleicht hatte der Künstler insgeheim gehofft,
dass die Wahl eines "bodenständigen" Themas helfen könnte, die Schranken der Jury zu passieren. Es war aber
klar, dass allein schon auf Grund der noch zu analysierenden Statik des Gemäldes, dieses zur Verherrlichung
von Sekundartugenden wie etwa Arbeitsfreude, Fleiß und Ordnungsliebe, wie sie damals propagiert wurden, in
keiner Weise tauglich sein konnte und dass es schon vom Stil her zum tolerierten und sogar geförderten
Heimatkitsch nicht passen konnte.
Schon ein sehr oberflächlicher Vergleich mit Brueghel macht die Besonderheit des Bildes deutlich. Während der
Holländer eine Szene voller Lebensfreude und Vitalität zeigt, bleiben die Personen der Backstube seltsam steif
und statisch. Es passiert überhaupt nichts. Noch nicht, wie wir sehen werden. In der Tat wird das Gemälde ganz
von der Geometrie beherrscht. Dies wird bei den Brotlaiben auf dem Tisch sowie den appetitlich aufgereihten
Brezeln auf den sich in der Ferne verjüngenden Brettern besonders augenfällig. Es geht daher um das Thema der
Perspektive.
An dieser Stelle wird nun ein Rückgriff auf die Geschichte der Malerei weit vor Brueghel erforderlich. Die
Theorie der Perspektive (das Wort leitet sich ab von lateinisch perspicere "schauen") wird in der ersten Hälfte
des 15. Jahrhunderts entwickelt, das die Italiener das Quattrocento nennen. Die Macht der Perspektive, der
Lehre vom geordneten Sehen, sollte die abendländische Malerei beherrschen, selbst noch im Impressionismus als
die Farbe die Dominanz erlangt. Erst der Kubismus setzt ihr ein Ende. In der Neuen Sachlichkeit, der dieses
Gemälde nolens volens zuzuordnen ist, erlebt die Perspektive jedoch eine Neubelebung. übrigens gehörte auch
an der Stuttgarter Akademie, an der P.K. studierte, das perspektivische Zeichnen zur Grundausbildung. Doch
kehren wir zurück zum Ursprung der Perspektive in jener Zeit des übergangs von der Gotik zur Renaissance,
die sich hauptsächlich in Florenz abspielt. Ein gewisser Alberti verfasst 1435 ein lateinisches Traktat
"De pictura", wo die Rede von einem zentralen Punkt ist, auf den alles zustrebt. Wir nennen diesen Punkt den
Fluchtpunkt. Die geometrische, mathematische und experimentelle Begründung der Perspektive ist jedoch das
Verdienst des Architekten und Malers Brunelleschi, dem Florenz die berühmte Kuppel des Duomo verdankt. Mit
der Erfindung der Perspektive war nun eine Raumillusion möglich, die im Barock in der
"Trompe-l'Oeil-Technik"
ihren Höhepunkt fand. Diese Errungenschaft bedeutete einen gewaltigen Fortschritt für die Geschichte der
Malerei. In dieser frühen Phase spielen Architekturelemente eine große Rolle im Aufbau des Gemäldes und
insbesondere sorgen sehr oft Marmorplatten des Bodens sowie Säulenreihen für eine dreidimensionale Wirkung.
Natürlich hatte sich P.K. auf drei ausgedehnten Italienreisen ausgiebig mit dem Quattrocento beschäftigt.
Auch die noch vollständig erhaltene Kunstbibliothek legt hierüber Zeugnis ab.
Aus der Mitte des Quattrocento greife ich zum Vergleich, keinesfalls willkürlich, denn P.K. hat das Fresko
1924 in Florenz in Aquarelltechnik kopiert (WV 17037), eine Verkündigungsszene des Fra Angelico heraus, die
sich im Kloster San Marco befindet.
Hier bestimmen die Säulen einer nach links offenen Halle den Raum. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen
verzichtete Fra Angelico auf die Verwendung der bereits erwähnten Bodenplatten. Die Ansicht ist frontal
wie im Backküchenbild. Der Fluchtpunkt befindet sich haarscharf oben links in der Türecke, und wo liegt
er in der "Backstube"? Hier laufen die Fluchtlinien genau auf die rechte obere Ecke der Ofentüre zu und
damit in Richtung des Kopfes der alles beherrschenden Figur des Bäckers.
Dieser Fluchtpunkt gilt zunächst nur für die linke Bildhälfte, denn rechts bestimmt teilweise eine andere
Geometrie den Raum. Da verlaufen die Brezel-Bretter nicht etwa parallel, sondern sie divergieren. Ein
jedes hat seinen eigenen Fluchtpunkt.
Eine solche Raumgestaltung wäre im Quattrocento völlig undenkbar gewesen. Diese fast individuelle Freiheit,
die sich diese Bretter herausnehmen, haben sicher die Funktion, den strengen Bildaufbau aufzulockern.
Gleichzeitig aber führen die Fluchtlinien der genannten Bretter den Blick auf die fünf Frauen im
Hintergrund, die den Gegenpol zur Gestalt des Bäckers bilden.
In seiner berühmten Abendmahlszene hat Leonardo da Vinci die Thematik der Perspektive ein halbes
Jahrhundert nach Fra Angelico vielleicht am konsequentesten gestaltet.
Hier verlaufen sowohl die Fluchtlinien der Deckenkassetten als auch die Diagonalen und Mittellinien auf einen
Punkt zu: den Kopf Christi. Wie wir sehen, ist die Perspektive nicht nur Selbstzweck, sondern ein Mittel der
Komposition und ein Vehikel für die inhaltliche Aussage, die Christus in das ruhende Zentrum des Geschehens
stellt. In diesem absolut geometrischen, absolut symmetrischen und, ich bin versucht hinzuzufügen, absolut
langweiligen Raum, spielt sich nun eine äußerst bewegte Szene der Apostel statt, die erhitzte Diskussion
ausgelöst durch das Christuswort "Einer unter euch wird mich verraten." Die Szene hält also einen bestimmten
Punkt in der Zeit fest. Andererseits wissen wir auch was davor war und was folgen wird. Dadurch kommt nun
die vierte Dimension ins Spiel: die Zeit.
So wie die "Verkündigung" des Fra Angelico bei aller Statik der Darstellung ihrem Wesen nach auf einen Punkt
in der Zukunft verweist, nämlich die Geburt Christi, hält auch das Backküchenbild mit seiner eigenartigen
Unbewegtheit einen Zeitpunkt fest, auf den etwas folgen wird. In diesem Bild "passiert" nämlich gar nichts.
Noch nicht. Es ist jedoch leicht einzusehen, dass die Frauen, mit ihren Broten beladen, nicht lange in
dieser Stellung verharren werden. Sie befinden sich in einer Erwartung. Ebenso drücken der auf die Hüfte
gestützte Arm sowie die erhobene Backschaufel eine Wartestellung aus. Selbst die bereitgestellten Brote und
Brezeln, ja selbst die Holzscheite scheinen zu warten, schön säuberlich in Reih und Glied. Der zeitliche
Zielpunkt des Gemäldes ist offensichtlich der Augenblick, in dem die Brote und Brezeln "eingeschossen"
werden. Warum aber hat der Künstler den statischen und nicht den dynamischen Zeitpunkt der Ereignisse für
die Darstellung der Backküche gewählt? Ein Brueghel hätte da nicht gezögert, denn ihn interessiert das
pulsierende Leben und die Vielfalt seiner Ausdrucksformen. Vielleicht liefern die folgenden Ausführungen
einige Elemente für eine Antwort.
Zunächst aber noch ein Wort zur farblichen Gestaltung der Backstube. Die sorgfältig geplante Farbigkeit
geht aus einer der Vorzeichnungen hervor, die mit Sicherheit vor Ort entstanden ist, wohingegen das Gemälde
selbst, schon allein wegen seiner Dimensionen ein typisches Atelierbild ist. Das Bild fällt durch seine
reduzierte Farbgebung auf, die teilweise, wie bei den Brezeln bis in den Bereich der Grisaille-Malerei
führt. Umso mehr gewinnt der Backofen mit seiner ihm eigenen Regelmäßigkeit der Ziegelsteine an Bedeutung.
Vor dem Hintergrund seiner die waagerechten Linien unterstreichenden Struktur, tritt hier das einzige
nicht regelmäßig geformte, nicht der Geometrie unterworfene Element des Feuers und seiner Rauchspuren in
Erscheinung. An dieser Stelle hört die "Ordnung" des Sehens auf, um der Naturgewalt Platz zu machen, die
keine Perspektive kennt.
In diesen streng strukturierten Raum sind nun Personen einbezogen. Die linke Seite des Bildes wird im
engeren und weiteren Sinne von der Gestalt des Bäckers beherrscht, der sich farblich vom Backofen abhebt,
wobei mit bescheidenen Farbmitteln ein durchaus dramatischer Effekt hervorgebracht wird. Seine
Körperhaltung und die wie zum Gruß dem Betrachter zugewandte Backschaufel verstärken den Eindruck der
Frontalansicht. Dies legt nahe, den Standpunkt des Betrachters gegenüber dem Bäcker anzusiedeln, zumal
das Fenster im Hintergrund durch den Vorsprung des Ofens zu einem Teil verdeckt ist. Dies bedeutet,
dass er sich im linken Drittel des Werkes befindet, was sich, zumindest oberflächlich betrachtet,
etwas seltsam ausnimmt, denn die Perspektive eines Bildes bezieht sich ja auf eben diesen Betrachter.
Letzterer wird damit folgerichtig mit dem Fluchtpunkt konfrontiert. Demgegenüber wird die Frauengruppe
an die rechte Seite und in den Hintergrund gedrängt. Die starke Verkleinerung bewirkt, dass die fünf
Frauen optisch ungefähr dieselbe Masse darstellen wie der Bäcker, und damit ein gewisses Gleichgewicht
hergestellt wird.
Nun muss man sich fragen, welchen Bezug die Personen zueinander haben. Der Blick des Bäckers scheint
vom Betrachter aus diagonal nach rechts ins Leere zu gehen. Die Frauen wiederum schauen diagonal nach
links. Die Blicke scheinen sich also zu kreuzen, ohne dass ein Augenkontakt besteht. Der Schein trügt.
Dies gewahrt der Beobachter, wenn er seinen Standpunkt absichtlich nach rechts verlegt und sich auf
den rechten Bildrand begibt. Seltsam, plötzlich erkennt man, dass der Mann nicht etwa in die Ferne
schaut, sondern auf die Frau mit den drei Brotlaiben, womit der Bezug hergestellt ist. Zieht man nun
in Gedanken eine Querlinie vom Sockel des Ofens nach rechts, so zeigt sich, dass die besagte Frau vor
diese Linie zu stehen kommt. Da der Bäcker aber, wenn man dies an den Broten des Tisches abzählt,
ganze zwei Schritte vom Backofen entfernt ist, so wird klar, dass sich die Personen sehr wohl
anschauen können.
Wir müssen also unseren ersten räumlichen Eindruck revidieren und den Raum neu ordnen. Die
Frauen befinden sich nämlich gar nicht so weit vom beladenen Tisch entfernt wie es scheinen
will, zumal sich deren Brotlaibe fast genau auf der horizontalen Mittelachse befinden. "Schuld"
an diesen Illusionswirkungen, an diesen "Spezialeffekten" sind einerseits die sich stark
verjüngenden Brezel-Bretter, andererseits die deutliche Verkleinerung der Frauengestalten,
die wie wir sehen werden, nicht unbeabsichtigt ist.
Es ist nun an der Zeit, auch die symbolischen Perspektiven des Gemäldes zu eröffnen, denn es hat
ja offensichtlich eine theatralische Wirkung, zu der die Backstube lediglich die Kulisse abgibt.
Was zum Beispiel die Frauengruppe angeht, so erinnere ich mich sehr wohl, wie P.K. einem Besucher
die Parallele zum Antiken Chor erklärte. In diesem Zusammenhang kann ich auf eine ganz ähnliche
Figurengruppe hinweisen, die auf einer großformatigen Darstellung einer Tänzerin
(vgl. WV 34930)
von 1936 dargestellt ist und wo der Bezug zum Theater ja ganz offensichtlich ist. Erwähnenswert
ist sicher auch die weniger bekannte Tatsache, dass P.K. während seiner Stuttgarter Akademiezeit
gelegentlich als Statist bei Opernaufführungen mitwirkte.
Nun besteht ja der antike Chor, etwa bei Sophokles, aus Männern oder Frauen, die nicht aktiv in
das Geschehen eingreifen, sondern dieses nur kommentieren und auf die Macht des Schicksals
verweisen. In vielen Inszenierungen bleibt der Chor im Hintergrund. Durch die bereits erwähnten
Kunstgriffe der Komposition des Bildes werden die Frauen jedoch optisch weiter in den Hintergrund
gerückt als dies in Wirklichkeit der Fall ist. Die Chorsprecher bzw. Chorsprecherinnen bleiben
ihrem Wesen nach sowohl statisch als auch anonym. Sie treten als Kollektiv auf, mit Ausnahme
eventuell des Vorsprechers, der sogenannten Koryphäe. In unserem Bild übernimmt die Frau mit den
drei Brotlaiben diese Rolle. Sie ist daher auch individuell gestaltet und, wie eine Vorzeichnung
beweist, als echtes Portrait konzipiert. In den etwas bescheideneren Rahmen der ländlichen
Backküche übertragen, gab es für den "Frauenchor" hier sicher sehr viel zu "kommentieren". Man
kommt daher wohl kaum umhin, hier eine gewisse Ironie festzustellen, die durch den Bezug zur
Realität hindurch schimmert.
In diesen Zusammenhang lässt sich auch ein humorvolles Detail einordnen. Eines der Brote trägt
nämlich ein Etikett mit dem Namenszug des Künstlers. Einerseits entspricht dies der Realität,
denn die Brote der Familie wurden tatsächlich vom Künstler eigenhändig mit Tusche bezeichnet,
andererseits wirkt diese Einzelheit, in der sich der Künstler ironisch ins Bild setzt, wie ein
humorvolles Augenzwinkern in Richtung auf die Genremalerei. Wichtig ist festzuhalten, dass der
Ausgangspunkt zwar immer die Realität ist, dass aber immer auch die Distanz zu dieser Realität
geschaffen wird. Genau dieses "zweigleisige" Vorgehen öffnet aber zumindest einen schmalen Spalt
für den Einblick in die verklausulierte Aussage des Werks.
Eine theatralische um nicht zu sagen heroische überhöhung mit ironischem Unterton lässt sich noch
deutlicher bei der Behandlung des Bäckermeisters erkennen. In seiner imponierenden Positur ist er
sich der Bedeutung seiner Rolle bewusst. Er herrscht über die Brote, die Brezeln, die Frauen und,
nicht zuletzt, ist er der Herr des Feuers. Die Raumordnung kann auch als seine Ordnung interpretiert
werden: Die Bäckerwaren sind schließlich seiner Ordnung unterworfen und sie warten stramm in Reih
und Glied wie bei einer Militärparade und deren gab es damals mehr als genug, bis er das Kommando
gibt.
Nun war der damalige Bäckermeister ja nicht irgendwer im Dorf, sondern dessen Bürgermeister. Für
diejenigen, die nicht ortskundig sind, sei hinzugefügt, dass sich die Backstube im Erdgeschoss des
Rathauses befand und die Amtsstube im Stock darüber. Damit sind wir unversehens in eine neue
Perspektive vorgestoßen: die politische. Darüber hinaus ist die Beziehung zwischen dem Künstler
und dem Dargestellten nicht ganz unbeschwert, wie der Fortgang der Geschichte zeigt.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde P.K. 1945 von der Besatzungsmacht da politisch
"unbelastet" nämlich als kommissarischer Bürgermeister eingesetzt und eine seiner ersten
Amtshandlungen sollte darin bestehen, diesen Bäcker von seinem Bürgermeisteramt zu entheben,
ihn in die Backküche zurückzuschicken, und sich für die Wiederwahl seines Vorgängers aus der
Zeit vor der Machtergreifung einzusetzen. Man mag einwenden, dass der Rückschluss auf 1937
die Chronologie der Ereignisse auf den Kopf stellt, doch als Indiz für die Hinterfragung der
Person und der Hohlheit seiner "Autorität" dürften diese Umstände dennoch nicht unerheblich
sein.
Der Rückgriff auf die Entstehungszeit der Perspektive und des geordneten Sehens, das in einen
zentralen Punkt mündet, macht klar, dass diese Entdeckung einher geht mit der Konzentration
aller Macht im principe, dem absoluten Fürsten des Florentiner Stadtstaates. Alberti sagt
"Non tumultuare videatur." Damit will er sagen, dass er keinen Aufruhr sehen will, wie ihn
Florenz zur Genüge erfahren musste, bevor die Medici unter Como dem älteren schließlich
"die Macht ergriffen". Nun lehrt die Geschichte, dass zu viel Ordnung eben im Verlust der
Freiheit endet.
Bereits 1933 verfasste P.K. eine Resolution gegen die Kunstpolitik des Dritten Reiches in der
er Partei ergriff für "jene Freiheit, ohne die keine ehrliche schöpferische Tat möglich ist,
weil der Künstler Spiegel und Gewissen seiner Zeit sein soll" (zitiert nach Ludwig Dietz:
Paul Kälberer, ein Maler und Radierer der Neuen Sachlichkeit, Stuttgart, 1989). Diese
programmatische Formulierung der Rolle des Künstlers, erlaubt es nun, in der Interpretation
der "Backküche" einen Schritt weiter zu gehen und die damalige Aktualität einzubeziehen.
Die politische Perspektive des Jahres 1937 darf daher bei der Interpretation des Werkes
keinesfalls ausgeklammert werden. Es ist nicht nur das Jahr der "Großen Deutschen
Kunstausstellung", sondern auch der gleichzeitigen Schau "entartete Kunst". Die
Nazipropaganda strebt ihrem Höhepunkt entgegen. Ein Blick auf die großen Vertreter der
"Neuen Sachlichkeit" zeigt, dass es zwischen Exil und Unterwerfung unter die geistige
Diktatur und deren "geordnetem Sehen" allenfalls der Rückzug auf altmeisterliche Techniken
und Positionen möglich blieb und, um bei dem vorliegenden Gemälde zu bleiben, mit
vorsichtiger, fein dosierter Ironie und schwäbischer Doppelbödigkeit die Hohlheit allen
heroischen Gehabes, wie etwa der wie zum Gruß erhobenen Schaufel, zu unterlaufen.
Das "Große Backküchenbild" setzt daher auch den Schlusspunkt hinter die neusachliche Phase
des Künstlers. Der Künstler wird sich, um wirtschaftlich zu überleben, vielen Tätigkeiten
widmen, die er selbst als "eher handwerklich" bezeichnete.
Ein Blick auf die politischen und zunehmend militärischen Ereignisse des Jahres 1937 mag
dazu beitragen, die geistige Verfassung von Menschen und Künstlern zu verstehen, die
kritisch und sorgenvoll aber eben ohnmächtig die Entwicklung verfolgten. Es ist das Jahr
des Staatsbesuchs von Mussolini. Deutsche Fliegergeschwader bombardieren Guernica und
greifen damit in den Spanischen Bürgerkrieg ein. Picasso protestiert mit einem seiner
eindrucksvollsten Werke. Im Fernen Osten ist der Krieg bereits mit dem Angriff Japans
auf China ausgebrochen. In Europa scheint dies nur noch eine Frage der Zeit zu sein seit
Hitler seine Expansionspolitik offen als nur mit Gewalt lösbar formuliert. Europa schaut
passiv zu. Alles wartet auf ein Ereignis. Die Situation ist wie gelähmt. Seltsam: Die
Steifheit der Personen der Backstube klingt wie ein Echo auf die äußere Situation des
Entstehungsjahres.
Für den Künstler, der das Inferno von Verdun miterlebt hatte, und aus der Gefangenschaft
ein schweres Asthmaleiden mitgebracht hatte, konnten beklemmende und beängstigende
Gefühle bei der Schaffung seines Werkes nicht ausbleiben und haben sicher auch die
Raumgestaltung mitbestimmt. Der Raum der Backküche ist im Gegensatz zu vielen Gemälden der
von ihm so sehr geliebten Frührenaissance ein völlig geschlossener Raum. Selbst das Fenster
im Hintergrund gewährt keinen Ausblick, denn das angedeutete Laub zieht gewissermaßen den
Vorhang zu. Die Eingangstüre ist verschlossen. Der einzige Ausblick ist der auf das Feuer
und wir wissen, dass der Bäcker sehr bald den Riegel des Backofens ganz öffnen wird und,
wie es der "Frauenchor" suggeriert, das Schicksal seinen Lauf nimmt.
Es bleibt jedoch zumindest eine Frage offen: Wie kommt ein Künstler dazu, einem anscheinend
so ferne liegenden Thema wie der Verkündigung des Fra Angelico einen technischen Kunstgriff
der Perspektive zu entlehnen (Ansiedelung des Fluchtpunktes in einer Türecke), ohne auch
inhaltlich einen Bezug herzustellen? Könnte es nicht sein, dass es sich nach dem, was zur
werkimmanenten Zeitkritik gesagt werden konnte, auch beim Backküchenbild um eine
"Verkündigungsszene" handelt? Um eine Verkündigung der besonderen Art. Demnach könnte der
weiß geschürzte Bäcker als Engel unter negativem Vorzeichen "erscheinen", als der gefallene
Engel, als Lucifer, der nicht von kommendem Glück sondern von kommendem Unheil kündigt, der
die Macht des Feuers entfesseln wird. Das "Ave Maria", das "Heil Dir Maria", würde sich dann
als "Heil H
" lesen lassen.
Damit sind wir nach einigen Umwegen zum Verständnis des Werkes als Allegorie gelangt, eine
Allegorie, die sich auf die Realität stützend in subtiler Form eben diese Realität überwindet
in einem Bild, das nicht nur "Spiegel", sondern auch "Gewissen seiner Zeit" sein will.
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