Paul Kälberers Italienreisen
Der Maler und Grafiker Paul Kälberer (1896-1974) unternahm in den
Jahren 1924 und 1932/33 drei ausgedehnte Reisen nach Italien, auf denen er sich
intensiv mit der Kunst der alten Meister auseinandersetzte. Die tiefen Einsichten
in das Wesen der Kunst prägten sein künstlerisches Schaffen, das im Zeichen der
neuen Sachlichkeit steht.
Christine Dietz: Paul Kälberers Italienreisen
Zur Einführung in die Ausstellung "Paul Kälberers Italienreisen" anlässlich der
Ausstellungseröffnung am 29. März 2014 im Atelierhaus der Kunststiftung in Sulz
a.N. - Glatt.
Rom, Blick auf Santa Maggiore am Abend, 1924
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Mit seinen Italienreisen 1924, 1932 und 1933 reiht sich Paul Kälberer in eine
Tradition ein, die Jahrhunderte lang deutsche Künstler maßgeblich beeinflusst hat.
Im Dialog mit der griechisch-römischen Antike, in der Anschauung der "Alten Meister",
vornehmlich der italienischen Renaissance, klärten sie ihre eigene Kunstauffassung
und rangen um ihren ganz eigenen Stil.
Für Kälberer bedeutet vor allem die erste Italienreise vom 26. März bis zum
26. September 1924 eine Bildungsreise im weitesten Sinne, wie die Tagebücher
belegen. Neben dem eigentlichen Reiseanlass, der Kunst und Kultur, beschäftigt
ihn die Geografie des Gastlandes und seine Jahrtausende alte Geschichte bis
hin zur aktuellen Tagespolitik. So beobachtet er die Wahlen am 6. April,
sieht die allgegenwärtigen faschistischen Plakate, "Schwarzhemdensoldaten,
die mit Knüppeln und Gewehren bewaffnet sind". Er setzt sich auseinander mit
religiösen Traditionen und gesellschaftlichen Phänomenen.
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Arezzo, 1924
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Immerhin ist dies die erste selbst organisierte große Reise des 27-Jährigen nach
Jahren der Fremdbestimmung. Zwischen 1914 und 1918 hat er mehrmals Europa von West
nach Ost und umgekehrt mit seiner Kompanie durchquert und 1920 die Gefangenschaft
in Chateauneuf bei St. Malo überstanden. Prägende Jahre waren auch dies:
Unverrückbar klar bleibt ihm die Überzeugung, nur im Frieden könne die Menschheit
in Würde überleben; und ebenso klar hat er entschieden, sein Leben ganz der Kunst
zu weihen.
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Palermo, Blick auf Monte Cuccio, 1924
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Nun also, nach vierjährigem Studium an der Stuttgarter Akademie, reisen die Freunde
Otto Groß und Paul Kälberer durch die Schweiz, mit kurzen Aufenthalten in Mailand
(Dom und Leonardos Abendmahl), Genua und Pisa durch ganz Italien. Quasi von unten
her, von Sizilien aus, erfahren die beiden wechselnde Landschaften und Kulturen,
per Bahn, weite Strecken zu Fuß - ihre genagelten Wanderstiefel erregen Aufsehen.
Am 15. Mai notiert Kälberer "Unbegreiflich ist es jedem Italiener, dass man
vergnügungshalber zu Fuß gehen kann und dazu noch Gepäck trägt. Hier reitet oder
fährt man, denn es gibt Esel, Maultiere und Pferde genug."
Bescheiden sind die Unterkünfte, zur Not wird auch mal im Freien unter der Zeltplane
übernachtet. Morgens kochen sich die Reisenden Kakao, essen Brot und Obst. Sie erholen
sich von Museums- und Kirchenbesuchen bei einer Siesta im Giardino Publico und stärken
sich abends mit preiswerter Pasta und einem Glas Wein. Ärger macht die italienische
Infrastruktur, als ein dringlich erwarteter Wertbrief über einen Monat zu seiner Reise
über die Alpen braucht.
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Kälberers 1. Italienreise 1924
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Diese äußerlichen Fakten erwähnt Kälberer eher knapp in seinem Tagebuch, nur wenn
die nächtliche Insektenplage das erträgliche Maß übersteigt, muss er seiner Qual
mehr Luft machen.
Im Zentrum der Einträge steht die Fülle der täglichen Eindrücke, welche die Feder-
und Bleistiftzeichnungen in den Skizzenbüchern und die Aquarelle ergänzen:
Griechische Tempel, die großen Kirchen, Hafenszenen, das blaue Meer. Monte Pellegrino,
Monte Cuccio und der Aetna, später der Vesuv - alle Berge werden erstiegen und
intensiv in ihrer Einmaligkeit erlebt. Kälberer weiß um die bewahrende Kraft des
Schreibens, formuliert mit Bedacht und festigt so die bleibende Erinnerung.
Diese Art des Reisens erlaubt es, neben den landschaftlichen und historischen
Schätzen "Land und Leute" unverstellter zu erleben als wir Heutigen aus dem
klimatisierten Reisebus heraus. Als freundlich und hilfsbereit erlebt Kälberer
die Menschen, einmal abgesehen von tourismusgewohnten Trinkgeldjägern in den
Großstädten. Er bewundert die natürliche Lebhaftigkeit und Leichtigkeit der
Südländer, deren Lebensqualität in so starkem Kontrast zum pietistisch engen
Fleißideal des Elternhauses steht.
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Fahnenschwinger beim Palio in Siena, 1928
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In Italien erlebt Kälberer erstmals auch einen Katholizismus, dessen festliche Rituale,
etwa anlässlich einer theatralisch inszenierten ganztägigen Karfreitagsprozession in
Palermo, ihm pompös erscheinen. Er registriert eine naive Frömmigkeit der Gläubigen,
die ihm fremd ist. Obwohl aus der evangelischen Kirche ausgetreten, vertraut er dem
Tagebuch seine Sehnsucht nach einer ganz am christlichen Ideal der Nächstenliebe und
Güte orientierten Religion an. Fromme Gefühle erfüllen ihn vor den Gemälden und
Fresken der Großen in Museen und Kirchen: Duccio, Giotto, Leonardo, Piero della
Francesca, Fra Angelico, Tizian, Rembrandt, auch vor Michelangelos gewaltigem David
in Florenz.
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Gesa Rautenberg (Bildnis meiner Frau), 1926
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Das Hinterfragen eigener Werte und Orientierungen zeigt sich auch und vor allem in
den intensiven Kunstbetrachtungen. So vieles, was von Abbildungen her und aus
kunsthistorischen Abhandlungen vertraut war, ist nun im Original zu sehen und
überwältigt den Betrachter. Rückhaltlose Bewunderung drückt Kälberer dort aus, wo
er eine Synthese von künstlerischer Meisterschaft und tief empfundenem Ausdruck
spürt. Allzu glatte Könnerschaft stört ihn z.B. an einigen Werken Raffaels.
Indess will er nicht vorschnell urteilen. Oft gönnt er sich eine Art
"abwartendes Sehen", ein Wiederholen und Festigen des Eindrucks, um mehr Tiefe
des Urteils zu gewinnen. Er notiert Bildaufbau und Farben, Gedanken zur
Bildwirkung. In Rom ringt er geradezu um seine persönliche Haltung zu der
gewaltigen Peterskirche, er erlebt eine prunkvolle Messe mit schönem Gesang, er
steigt hinauf in die höchsten Höhen der Kuppel. Wiederholt besucht er die
Sixtinische Kapelle, bis ihn Michelangelos Fresko des Jüngsten Gerichts ganz
überzeugt.
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Meine Frau (Gesa Kälberer im Atelier), 1926
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Gern suchen Kälberer und Groß die Gesellschaft anderer schwäbischer Künstler, man trifft
sich in Florenz, in Rom, in Venedig und besucht gemeinsam die Museen, teilt seine
Gedanken mit und feiert dann abends fröhlich. Wie die großen italienischen Meister
Kälberers Schaffen ein Leben lang geprägt haben, so hat er sich fast allen Freunden
dieser prägenden Zeit ein Leben lang verbunden gefühlt!
In Palermo, Neapel, Rom, Florenz als großen Zentren der Kunst hat Kälberer sich
jeweils länger Zeit gelassen, aber vor allem bei den Abstechern in ländlichere Gefilde,
etwa um Siena oder Arezzo herum, träumt Kälberer davon, einmal doch länger hier
verweilen und arbeiten zu dürfen. Diesen Wunsch nach einem ländlichen Refugium in
schöner Hügellandschaft, das ungestörtes Arbeiten erlaubt, hat Paul Kälberer sich
wenige Jahre später zusammen mit seiner Frau Gesa in Glatt erfüllt. Hier haben die
beiden ihr Tusculum erschaffen und uns hinterlassen! Sie alle, liebe Kunstfreunde, die Sie heute hier sind, halten das Gedenken an Paul und Gesa Kälberer lebendig.
29. März 2014
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