Bernhard Rüth/Andreas Zoller

Neue Sachlichkeit in Schwaben

Paul Kälberer und seine Weggefährten Jakob Bräckle und Reinhold Nägele
Zu einer zweiteiligen Ausstellung in Rottweil und Hausen ob Verena

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Weltkunst

Paul Kälberer (1896-1974), Großes Familienbild, 1929-1931, Öl/Lwd., 181 x 139 cm; Privatbesitz

In der wissenschaftlichen Forschung wie im Ausstellungsbetrieb findet die Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre, soweit sie im Zeichen der Neuen Sachlichkeit steht, mehr und mehr Beachtung. (1) Dabei geraten Künstler in den Blick, die in der Nachkriegszeit in der Kunstszene marginalisiert worden waren - darunter auch der Maler und Graphiker Paul Kälberer (1896-1974).

Im Jahr 1989 veranstaltete die Städtische Galerie Böblingen - im Anschluß an Retrospektiven zur Stuttgarter Sezession - eine Ausstellung zum neusachlichen Werk Paul Kälberers, zu der ein Katalog mit Darstellungen und Quellen herauskam. (2) Im selben Jahr erschien eine Monographie zum Thema "Paul Kälberer als Grafiker" (mit Werkverzeichnis). (3) Durch diese Unternehmungen wurde Paul Kälberer als neusachlicher Künstler wieder ins Bewußtsein der Kunstinteressierten gehoben.

Diese "Neuentdeckung" nahmen die Kunststiftung Hohenkarpfen und der Landkreis Rottweil zum Anlaß, Paul Kälberer und seinen Weggefährten Jakob Bräckle (1897-1987) und Reinhold Nägele (1884-1972) eine Doppelausstellung zu widmen, die den schwäbischen Beitrag zur Kunst der Neuen Sachlichkeit an drei Künstlergestalten verdeutlichen soll. In ihrem Einzelgängertum lassen die Realisten Bräckle, Kälberer und Nägele die Spannbreite der künstlerischen Bestrebungen erkennen, die unter dem Etikett der "Neuen Sachlichkeit" zu fassen sind.

In der Kunst der Neuen Sachlichkeit, die vom persönlichen Erfahrungshorizont ausgeht, kommt dem Moment des Regionalismus erhebliche Bedeutung zu. Insofern mag es angängig sein, die Kunst der Neuen Sachlichkeit auch unter regionalem Aspekt zu betrachten. Dies soll hier für den schwäbischen Raum gelten.

Im Kunstleben der süddeutschen Hauptstädte setzte sich die neusachliche Strömung in unterschiedlichem Maße durch. Während sowohl in Karlsruhe als auch in München Vertreter der Neuen Sachlichkeit maßgeblichen Hinfluß erlangten, kamen die neusachlich arbeitenden Künstler in Stuttgart nicht voll zur Geltung. In der württembergischen Metropole wurde die Kunstszene in den zwanziger Jahren vom Expressionisten Heinrich Altherr beherrscht, der im Verein mit seinen Schülern der Stuttgarter Sezession den Stempel aufdrückte. In deren Umkreis machten sich zwar versachlichende Tendenzen bemerkbar, doch blieben sie Episode.

In Württemberg waren es - neben Leonhard Schmidt und den anderweitig orientierten Rudolf Schlichter und Kurt Weinhold - vor allem die Außenseiter Reinhold Nägele, Jakob Bräckle und Paul Kälberer, die sich - auf Zeit oder auf Dauer - neusachliche Formprinzipien zu eigen machten. So nimmt es nicht wunder, daß in den Standardwerken zur Neuen Sachlichkeit Stuttgart und Schwaben als Kristallisationspunkte kaum je vorkommen.

Im schwäbischen Raum wurde auch erst relativ spät, und dann noch von der Peripherie her, Ausschau nach Künstlern gehalten, die im Geist der Neuen Sachlichkeit arbeiteten. Zur - nicht mehr zur Ausführung gelangten - Ausstellung "Beschauliche Sachlichkeit" lud Gustav Friedrich Hartlaub, der als Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim mit der Vorgängerausstellung von 1925 der Neuen Sachlichkeit den Namen gegeben hatte, fünf "Schwaben" ein: neben Kälberer und Nägele den Ulmer Karl Schäfer, den Esslinger Heinrich Kralik von Mayrswalden und den Würzburger (!) Karl Großberg. Die wichtigste Ausstellung zur (Spätphase der) Neuen Sachlichkeit in Schwaben zeigte Julius Baum, der Leiter des Ulmer Museums, im Jahr 1932 unter dem Titel "Deutsche romantische Malerei der Gegenwart". Der verdiente Kunsthistoriker schloß die Neue Sachlichkeit als neue Romantik an die alte Romantik an; beide verband für Baum die lineare Gestaltung. In der Ulmer Ausstellung waren - neben Hauptvertretern der Neuen Sachlichkeit - zum erstenmal die zeitgenössischen "Romantiker" aus dem schwäbischen Raum vereint: neben Bräckle, Kälberer und Nägele wurden Otto Gross aus Winterreute, Heinrich Kralik von Mayrswalden aus Esslingen, Karl Schäfer aus Ulm, Leonhard Schmidt aus Stuttgart, Wolfgang Zeller aus Reutlingen und August Blepp aus Weilen unter den Rinnen berücksichtigt. So führte Baum die drei Individualisten Jakob Bräckle, Paul Kälberer und Reinhold Nägele unter dem Dach der "neuen Romantik" zusammen. Mit Baum sehen wir das verbindende Moment in der neusachlichen Orientierung ihres Schaffens.


Reinhold Nägele (1884-1972), Parteipanorama, 1925, Tempera/Karton, 64 x 59 cm; Privatbesitz

Das Werk Reinhold Nägeles (4) erfreut sich - nicht nur in Schwaben - wegen seiner Eigenwilligkeit allgemeiner Wertschätzung. Es entzieht sich der Vereinnahmung in eine bestimmte Kunstrichtung. Aufgrund offensichtlicher Berührungen mit der Neuen Sachlichkeit gilt Nägele gleichwohl als deren (einziger) Hauptvertreter in Württemberg.

Der Stuttgarter Autodidakt kam vom Jugendstil her. In der Vielfalt der Sujets erweist sich Nägele als Erzähler mit Liebe zum Detail. Neben impressionistisch aufgefaßten Ansichten finden sich surreale Architektur- und Landschaftsdarstellungen. Früh nahm Nägele typische Motive der Neuen Sachlichkeit - Errungenschaften der modernen Zivilisation wie Bahndämme und Stromleitungen - in seine Bilder auf. In den zwanziger Jahren unterwarf er darüber hinaus seine Maltechnik neusachlicher Objektivität. In der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen gewann Nägeles Werk eine politische Dimension. Aber anders als die Veristen wahrte der sensible Nägele Distanz; seine Gesellschaftskritik blieb humorvoll gebrochen. So erweist sich Nägeles scheinbar naiver Realismus als doppelbödig, als romantische Ironie.


Jakob Bräckle (1897-1987), Mondaufgang, 1926, Öl/Lwd./Spanplatte, 59 x 35 cm; Privatbesitz

Im Schaffen Jakob Bräckles (5) war die neusachliche Ausrichtung zwar von begrenzter Dauer, doch von weitreichender Wirkung. Dementsprechend wird die neusachliche Prägung seines Werks durchaus gewürdigt.

Der in Oberschwaben verwurzelte Künstler, ein Studienkollege Kälberers, feierte mit neusachlichen Arbeiten um die Mitte der zwanziger Jahre erste künstlerische Erfolge. Bräckle erwies sich als magischer Realist. In vereinfachten Formen und leuchtenden Farben beschwor er seine ländliche Umwelt ("Meine Bilder sind wie der Alltag, in dem ich lebe und dem ich zugehöre."). In den späten zwanziger Jahren traten in Bräckles Arbeiten atmosphärische Züge hervor; schließlich gab er die sachliche zugunsten einer expressiven Bildsprache auf. Doch weist Bräckles zur Abstraktion neigendes Spätwerk auf die elementare Sachlichkeit des Frühwerks zurück.

Im Vergleich zu Nägeles und Bräckles Anteilen genießt Paul Kälberers Beitrag zur neusachlichen Kunst geringere Publizität. Dabei steht Kälberers Werk in stärkerem Maße im Bann der Neuen Sachlichkeit als das Schaffen Nägeles und Bräckles.

Im Jahr 1896 geboren, besuchte Paul Kälberer nach Krieg und Gefangenschaft die Stuttgarter Akademie, wo er als Schüler Christian Landenbergers das malerische Handwerk erlernte. Für die Hinwendung zur Neuen Sachlichkeit war die Begegnung mit der Kunst der Frührenaissance (Italienreisen ab 1924) von Bedeutung. Durch sie fand Kälberer zu seinem "italienisierenden" neusachlichen Stil.


Paul Kälberer (1896-1974), Bachlandschaft (Glatt mit oberer Brücke), um 1931 - 1933, Öl/Lwd., 138 x 178 cm, Privatbesitz

Wie Bräckle unternahm Kälberer das Wagnis, sich als freischaffender Künstler auf dem Lande niederzulassen. Im Jahr 1927 verließ er die württembergische Metropole Stuttgart, um sich in die preußisch-hohenzollernsche Provinz, in die Ortschaft Glatt bei Sulz am Neckar, zurückzuziehen. Da er den Kontakt zur Hauptstadt wahrte, tat dies der Rezeption seiner Arbeiten (vorerst) keinen Abbruch. Als Maler und Radierer fand Kälberer in den späten zwanziger und dreißiger Jahren Beachtung und Anerkennung - im regionalen wie im nationalen, ja im internationalen Rahmen. Auf zahlreichen Ausstellungen waren Kälberers Gemälde und Radierungen zu sehen. Wiederholt entzog sich der Künstler der Verpflichtung an die Stuttgarter Akademie.

Von linearer Gestaltung ausgehend, auf plastische Wirkung zielend, entwickelte Kälberer eine von Distanz geprägte Darstellungsweise, die geeignet war, reale Gegenstände ideal ins Bild zu setzen - nicht im naturalistischen, sondern im Sinne eines ästhetischen Realismus. Charakteristisch sind der strenge, konstruiert wirkende Bildaufbau und der dünne, lasurartige Farbauftrag. Die künstlerischen Mittel dienen der poetischen Transformation der Wirklichkeit.


Paul Kälberer (1896-1974), Bildnis meiner Frau (Gesa Rautenberg), Öl/Lwd., 1926, 75 x 60 cm, Privatbesitz

Am 1926 entstandenen "Bildnis meiner Frau (Gesa Rautenberg)" wird die Umsetzung der italienischen Kunst des Quattrocento sinnfällig. In Komposition und Farbigkeit erinnert das Porträt der künftigen Ehefrau an Madonnendarstellungen. Das Motiv des Fensters - es öffnet sich auf die Hügellandschaft der Schwäbischen Alb - entstammt der spätmittelalterlichen Tradition.

Das "Große Familienbild" von 1929 bis 1931 läßt die Gestaltungsprinzipien der Neuen Sachlichkeit in der Handschrift Kälberers ebenso erkennen wie die "Bachlandschaft" aus der Zeit um 1931 bis 1933. Im "Großen Familienbild" sind die Gestalten des Künstlers, seiner Frau und seines Kindes in statuarischer Haltung vor einem komplexen Hintergrund aus Interieur und Natur wiedergegeben. Die Strenge der Darstellung, die an die Kunst des Trecento gemahnt, verleiht der Familie des Künstlers die Würde der Heiligen Familie. Die "Bachlandschaft" zeigt den Wohnort des Künstlers, die Ortschaft Glatt mit oberer Brücke. Durch raffiniertes Arrangement wird die Landschaft zur Idylle stilisiert: ein schwäbisches Arkadien, entworfen aus dem Geist der Frührenaissance. So erweist sich Kälberer in diesen Arbeiten, auf je eigene Art, als "realistischer Idealist".

Die im Zeichen der Neuen Sachlichkeit stehenden Bilder der Jahre 1925 bis 1937, zumal die Landschafts- und Gruppendarstellungen, bilden die Höhepunkte des malerischen Werks. Sie sichern Kälberer einen vorderen Platz unter den neusachlichen Malern des "romantischen Flügels".

Auf vielen Gebieten versiert, brachte Kälberer ein und dasselbe Motiv mitunter in verschiedenen Techniken zur Darstellung - nicht nur als Ölgemälde, sondern auch als Zeichnung, als Radierung oder als Lithographie. Demzufolge ergeben sich zwischen dem malerischen und dem graphischen Werk aufschlußreiche Parallelen, die zu stilkritischen Vergleichen herausfordern, so etwa bei den verschiedenen Darstellungen des Themas "Winter auf der Alb".


Paul Kälberer (1896-1974), Winter auf der Alb, 1. Fassung, 1932-1937?, Radierung, 20 x 24,4 cm; Privatbesitz

Ohne Zweifel kam das Medium der Radierung Kälberers Stilwollen - wie auch seinem handwerklichen Ethos - in besonderem Maße entgegen. Auf diesem Gebiet brachte er es, Initiator der Künstler- und Käufervereinigung "Freunde schwäbischer Graphik" (1930-1937/41), zu allseits anerkannter Meisterschaft, was sich in einer Auszeichnung auf der Weltausstellung in Paris 1937 niederschlug.

In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur sah sich Kälberer aus Gründen der Existenzsicherung zu Konzessionen an Zeitgeschmack und Zeitgeist genötigt. Er bediente sich altmeisterlicher Stilmittel, schuf dekorative Gebrauchskunst. In der Nachkriegszeit erreichte der politisch unbelastete Künstler als Kunstorganisator den Höhepunkt seiner Wirksamkeit; er rief den "Verband bildender Künstler Württemberg-Süd" ins Leben und legte zugleich den Grund für die "Arbeitsgruppe für bildende Kunst in Bernstein" (1946-1955), eine private Kunstschule, die in der Rückschau zum Mythos geworden ist. Indessen verpaßte - und verweigerte - Kälberer den Anschluß an die aktuelle Kunstentwicklung. Zwar suchte er neue Wege der Darstellung, arbeitete freier, flächiger, farbiger. Doch ging er den Weg in die Abstraktion nicht mit und geriet dann ins künstlerische Abseits. Von der Kunstszene abgesondert, wurde er zum "Maler der Stille", schuf vorwiegend Blumen - und Landschaftsbilder. Bis zu seinem Tode im Jahr 1974 blieb Kälberer in seiner Vielseitigkeit die herausragende Künstlergestalt im oberen Neckarraum; doch verengte sich die Rezeption seines Werks nunmehr auf den regionalen Bereich.

Die zweiteilige Ausstellung "Paul Kälberer - Kunst der Neuen Sachlichkeit in Schwaben" entstand als Koproduktion der Kunststiftung Hohenkarpfen (Kunstverein Schwarzwald-Baar-Heuberg) und des Landkreises Rottweil. Im Kunstmuseum Hoherkarpfen in Hausen ob Verena wird bis zum 16. August eine Auswahl neusachlicher Gemälde Bräckles, Kälberers und Nägeles gezeigt. Im Dominikanermuseum Rottweil (Dominikanerforum) ist bis 14. Juni ein Querschnitt durch das malerische Werk Paul Kälberers zu sehen. Zur Doppelausstellung ist ein zweibändiger Katalog erschienen; (6) er wird zum Preis von 25 DM verkauft.

Anmerkungen

1) Vgl. zuletzt: Neue Sachlichkeit - Magischer Realismus, bearb. v. Jutta Hülsewig-Johnen, Bielefeld 1990

2) Paul Kälberer, Ein Maler und Radierer der Neuen Sachlichkeit, hrsg. v. Ludwig Dietz u. Hans-Dieter Mück, Stuttgart 1989

3) Paul Kälberer als Grafiker, hrsg. v. Ludwig Dietz, Horb a.N. 1989

4) Brigitte Reinhard, Reinhold Nägele, in: Reinhold Nägele, 1884-1972, Stuttgart 1984, S. 15-20 (auch in: Paul Kälberer, Kunst der Neuen Sachlichkeit in Schwaben, Bd. l, S. 43-49)

5) Zu Bräckles neusachlicher Phase vgl. Monika Machnicki, Jakob Bräckle, in: Paul Kälberer, Kunst der Neuen Sachlichkeit in Schwaben, Bd. l, S. 27-34

6) Paul Kälberer - Kunst der Neuen Sachlichkeit in Schwaben, hrsg. v. Bernhard Rüth u. Andreas Zoller, 2 Bände, Hausen o. V./Rottweil 1992